Offener Brief 1. Juni 2022

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Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung für alle Geflüchteten sicherstellen

Sehr geehrter Herr Bundesminister Heil,

wir wenden uns als Vertreter*innen von 57 Organisationen und Verbänden aus den Bereichen Flucht und Gesundheit an Sie, weil wir beim Zugang zu Gesundheitsversorgung eine menschenrechtswidrige Ungleichbehandlung zwischen geflüchteten Menschen und eine medizinische Unterversorgung hunderttausender Menschen beobachten.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 sind nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge rund 600.000 ukrainische Geflüchtete in Deutschland angekommen. All diese Menschen – unter ihnen überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen – brauchen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung, die auch die Behandlung psychischer und chronischer Erkrankungen und notwendige Vorsorgeuntersuchungen einschließt.

Geflüchtete in Deutschland haben nach §§ 4, 6 AsylbLG in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthaltes aktuell nur Anspruch auf eingeschränkte Gesundheitsleistungen. Das Asylbewerberleistungsgesetz garantiert nur die Behandlung bei akuten Krankheiten und Schmerzzuständen. Alle weiteren Behandlungen, unter anderem von chronischen oder psychischen Erkrankungen, bedürfen einer oftmals langwierigen Einzelfallentscheidung durch das Sozial- und Gesundheitsamt. Dies führt zu einer massiven gesundheitlichen Unter- und Fehlversorgung. Die gesetzlichen Ansprüche Geflüchteter liegen deutlich unter dem Niveau, das im GKV-Leistungskatalog nach SGB V als das „Maß des Notwendigen“ definiert ist.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die Entscheidung des Bundeskanzlers und der Regierungschefs und -chefinnen der Länder vom 07.04.2022, Geflüchteten nach § 24 AufenthG aus der Ukraine ab dem 01.06.2022 Zugang zu Sozialleistungen nach SGB II und XII und damit zu umfassenden Gesundheitsleistungen nach GKV-Leistungskatalog zu gewähren. Dies ist ein richtiger und wichtiger Schritt.

Mit großer Sorge erfüllt uns jedoch die Ungleichbehandlung geflüchteter Menschen in Deutschland, die wir in Bezug auf Aufenthaltsrecht, Zugang zu Sozial- und Integrationsleistungen sowie zum Arbeitsmarkt, insbesondere aber auch in der gesundheitlichen Versorgung beobachten.
Wir sehen dies zum einen in der Praxis auf kommunaler Ebene. An mehreren Orten mussten Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan oder dem Jemen aus ihren Unterkünften weichen und an Orte mit schlechter psychosozialer und medizinischer Versorgungsstruktur umziehen, um Platz zu machen für Geflüchtete aus der Ukraine. In einigen Kommunen ist es Geflüchteten aus der Ukraine möglich, kostenlos den Nahverkehr zu nutzen, während Geflüchtete aus anderen Ländern oft Schwierigkeiten haben, eine Arztpraxis aufzusuchen, weil sie sich die Transportkosten nicht leisten können.

Zum anderen besteht auf Bundesebene der Anspruch auf umfassende Gesundheitsversorgung nach dem Beschluss vom 07.04.22 nur für hilfsbedürftige Menschen aus der Ukraine, die einen Aufenthaltstitel nach § 24 AufenthG haben. Damit sind sowohl aus der Ukraine geflüchtete Staatenlose und Drittstaatsangehörige ohne Daueraufenthaltsrecht in der Ukraine potenziell ausgeschlossen als auch Geflüchtete aus anderen Staaten, die weiterhin nur eingeschränkte Leistungsansprüche haben.

Alle Menschen in Deutschland brauchen eine Gesundheitsversorgung auf dem Niveau des GKV-Leistungskatalogs. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Bedarf Geflüchteter aus anderen Ländern als der Ukraine – oder von Geflüchteten aus der Ukraine, die keinen Aufenthaltstitel nach § 24 bekommen – niedriger sei als das im Leistungskatalog der GKV festgelegte „Maß des Notwendigen“.

Deutschland hat sich völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, einen diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Unterschiedliche Niveaus im Anspruch auf Gesundheitsversorgung sind daher nicht zu rechtfertigen. Bereits 2018 wurde Deutschland von dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinen abschließenden Bemerkungen zum Staatenbericht eindringlich aufgefordert, die Einschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Auch aus ökonomischer Perspektive ist der eingeschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung nachteilig. Eine Studie von Kayvan Bozorgmehr und Oliver Razum hat bereits 2015 zeigen können, dass der Ausschluss von Asylsuchenden in Deutschland höhere Kosten verursacht als deren Einbezug in die Regelversorgung.

Wir möchten Sie daher dringend auffordern, die aktuell bestehende Ungleichbehandlung zu beenden und sie zum Anlass zu nehmen, Einschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz für alle Geflüchteten abzuschaffen. Denn alle Menschen in Deutschland müssen ihr Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung wahrnehmen können.
Um dies tatsächlich zu gewährleisten, ist es zudem notwendig, dass Geflüchtete bundesweit über eine elektronische Gesundheitskarte einen unbürokratischen Zugang erhalten. Zudem müssen Angebote der Gesundheitsversorgung, insbesondere im Bereich der psychischen Gesundheit, bedarfsgerecht ausgebaut und angepasst werden. Hierzu gehört auch, qualifizierte Sprachmittlung zu gewährleisten. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag bereits angekündigt, das Asylbewerberleistungsgesetz zu überarbeiten, einen unbürokratischeren Zugang zu Gesundheitsversorgung für Geflüchtete sicherzustellen und Sprachmittlung im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung als Bestandteil des SGB V zu verankern. Wir bitten Sie, sich innerhalb der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass diese Vorhaben schnellstmöglich angegangen werden, damit alle schutzsuchenden Menschen in Deutschland Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung im Rahmen des Regelgesundheitssystems erhalten.

Gerne stehen wir Ihnen für weiterführende Gespräche und Rückfragen zur Verfügung.

Mit herzlichem Dank und freundlichen Grüßen
1. François De Keersmaeker, Direktor, Ärzte der Welt e. V.
2. Günter Burkhardt, Geschäftsführer, PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V.
3. Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik, Diakonie Deutschland
4. Prof. Dr. med. Ansgar Gerhardus, Vorsitzender, Deutsche Gesellschaft für Public Health
5. Sylvia Urban, Bundesvorstand, Deutsche Aidshilfe
6. Elise Bittenbinder, Vorstandsvorsitzende, Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfFe.V.)
7. Prof. Dr. med. Gerhard Trabert, Vorsitzender, Armut und Gesundheit e. V.
8. Dr. Felix Kolb, Geschäftsführender Vorstand Campact e. V.
9. Torsten Jäger, Geschäftsführer, Initiativausschuss für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz
10. Dr. med. Angelika Claußen, Co-Vorsitzende, Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkriegs/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V.
11. Jörg Schaaber, Geschäftsführer, BUKO Pharma-Kampagne
12. Dr. Inez Kipfer-Didavi, Geschäftsführerin, Handicap International e. V.
13. Noah Peitzmann, Geschäftsführer, Anonymer Krankenschein Bonn e.V.
14. Janina Meyeringh, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin und Leitung, XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V.
15. Dr. med. Gerhard Bonnekamp, Vorstandsmitglied, Medinetz Essen e.V.
16. Felix Ahls, Ko-Vorsitzender, Verein demokratischer Ärzt*innen 17. Medinetz Karlsruhe e. V.
18. Dr. med. Roland Fressle, Vorsitzender, Refudocs Freiburg e.V. 19. Medibüro Berlin e. V.
20. Sophia Wirsching, Geschäftsführerin, KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
21. MediNetz Bielefeld e. V.
22. Mona Golla, Medibüro Kiel e. V.
23. Prof. Dr. Karin Weiss, Geschäftsführerin, Zentrum ÜBERLEBEN gGmbH
24. Johanna Schwarz, Vorstandsmitglied, Medinetz Mainz e.V.
25. Nele Wilk, Clearingstelle Krankenversicherung RLP
26. Julia Helm, Vorstandsmitglied, Medibüro Lübeck e.V.
27. Pater Claus Pfuff SJ, Direktor, Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
28. Prof. Dr. Katrin Keller, Vorsitzende, IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit – Deutschland e.V.
29. Susanne Kahl-Passoth, Vorsitzende, Evangelische Frauen in Deutschland e.V.
30. Eva Klotz, Projektkoordination, Clearingstelle und Anonymer Behandlungsschein Leipzig e.V.
31. Claudius Voigt, Vorstandsmitglied, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA)
32. Nicolay Büttner, Politische Arbeit und Advocay, Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen
33. Medinetz Halle/Saale e.V.
34. Thomas Hammer, Vorstand, Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten e.V. (VdPP)
35. Medibüro Chemnitz e. V.
36. Naciye Demirbilek, Geschäftsführung, Frauenperspektiven e.V.
37. Bayerischer Flüchtlingsrat e. V.
38. Dr. Elizabeth Beloe, Vorstandsvorsitzende, moveGLOBAL e.V.
39. Dr. Claudia Tamm, Vorsitzende, MediNetz Koblenz e. V.
40. Jasper Steingrüber, Vorstand, MediNetz Jena e.V.
41. Kai Weber, Geschäftsführer, Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
42. Wolfgang Kramer, Vorstandsvorsitzender, refugio stuttgart e. V.
43. Achim Meis und Wolfgang Schwarz, Leitung soziale Dienste, Caritasverband Koblenz e.V.
44. Hannes Ströhlein, Aktion Grenzenlos e.V./Medizinische Flüchtlingshilfe Nürnberg + Fürth
45. Jugendliche ohne Grenzen
46. Valentin Senft, Vorsitzender, MediNetz Bonn e. V.
47. Medibüro Hamburg e. V.
48. Holger Förster, Geschäftsführer, Verband für Interkulturelle Arbeit (VIA) Regionalverband Berlin/Brandenburg e.V.
49. Franek Machowski, Projektkoordinator Gemeinsam. Schaffen.Teilhabe durch Patenschaften, Polnischer Sozialrat e.V.
50. Eva Weise, 1. Vorsitzende, Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf e.V.
51. FRABS e. V. (Freiburger Anonymisierter Behandlungsschein)
52. Medinetz Freiburg e. V.
53. Christin Hempeler, 1. Vorsitzende, Medinetz Hannover e.V.
54. Dr. Doris Felbinger, Geschäftsführung, BIG e. V. – Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen
55. Katrin Bahr und Frederik Kronthaler, Geschäftsführender Vorstand, Condrobs e.V. (mit der Condrobs Clearingstelle Gesundheit)
56. medinetz Gießen
57. Michael Knecht, Geschäftsführer Ambulante Hilfe